12. November 2017

Der Wert unseres Hab und Guts – und warum Verschenken so gut tut. Gastbeitrag #5

Meine liebe Freundin Sina hat zusammen mit ihrem Mann Miguel Deutschland auf unbestimmte Zeit verlassen. Das finde ich persönlich sehr traurig, aber ich freue mich für die beiden, dass sie den Mut hatten, alles hinter sich zu lassen und sich nur mit zwei Rucksäcken bepackt in's Abenteuer zu stürzen. Erst Kuba, dann Mexiko, und wer weiß, wo's die beiden danach hintreibt. Wen die Story der beiden interessiert, der/die kann auf Permaventura mitlesen
Heute erzählt Sina hier auf dem Blog, wie sie es geschafft hat, eine 50qm-Wohnung in Berlin aufzulösen, ohne einfach alles in die Tonne zu werfen.
Für uns ging es im Oktober auf unbestimmte Zeit in die Ferne - aber erstmal stand eine Wohnungsauflösung an! In den letzten Wochen vor der Abreise lag vor uns die Mammutaufgabe, den Inhalt unserer gesamten Wohnung zu sortieren und dann den größten Teil davon wegzugeben.
Es blieb also viel Zeit darüber nachzusinnen, wie wertvoll unser Hab und Gut wirklich ist und welche Möglichkeiten es gibt, seinen Wert auch für die Zukunft aufrecht zu erhalten.

Kurioserweise war die Aufgabe fast unseres gesamten materiellen Besitzes eines der Dinge, auf die wir uns am meisten gefreut haben. Obwohl unsere Wohnung in Berlin wirklich nicht allzu groß war, erschienen sie und ihr gesamter Inhalt wie eine wahnsinnige Last und Veranwortung.

Als wir vor drei Jahren nach Berlin zogen, begannen wir hochmotiviert mit dem Nestbau – nach vielen Umzügen wollten wir ein Zuhause, einen sicheren Hafen! Aber schon bald merkten wir, dass Besitz auch oft bedeutet, ein Stück Freiheit einzubüßen. Diese Erfahrung hat uns sehr schnell gezeigt, dass "Zuhause" nichts mit Besitz zu tun hat.

Oft neigen wir dazu, uns sinnlos an Objekte zu klammern (wie mir das Weggeben vieler Dinge wieder und wieder gezeigt hat). Wir machen uns vor, dass sie ein Teil von uns sind, dass sie emotionalen Wert haben, oder auch dass sie mehr wert sind als der Preis, den andere für sie zu zahlen bereit sind. Dabei trifft es das Sprichwort „Aus den Augen, aus dem Sinn“ hier wirklich gut – selbst über Jahre gehortete Dinge waren schnell vergessen, sobald sie einmal weg waren.

Wie wärs denn mit Verschenken?

Klar, einige Gegenstände und vor allem Möbel kann man auf den gängigen Plattformen sehr einfach loswerden. (Vor einiger Zeit hatte ich selbst mal ein paar Ideen zum Ausmisten gesammelt.) Aber was passiert mit all dem „Krimskrams“, der nur schwer einzuordnen oder gar zu benennen ist, aber sicherlich auch in der Zukunft sinnvoll weiterbenutzt werden könnte?
Für mich hat sich das Bündeln diverser Artikel, für die allein sich das Onlinestellen und Abholen nicht gelohnt hätte, als gute Möglichkeit erwiesen, um Dinge ohne offensichtlichen monetären Wert wegzugeben. Ich war überrascht, wie viele Leute sich mit Begeisterung ein „Kerzen-Selbstmachset“ (aus Wachsresten), eine „Basteltüte“ (mit diversen Bastelartikeln, Papieren, offenen Klebern, etc.), ein „Gartenset für Anfänger“ oder eine ganze Kiste voller Gläser für's nächste Marmeladeneinkochen abholen wollten. Zusätzlich wurde oft auch noch etwas Brauchbares aus dem Bücherstapel oder der Kiste mit aussortiertem Essen mitgenommen, die wir neben der Eingangstür stehen hatten.
Nicht bündelbare Gegenstände kamen kurzerhand in eine Kiste vors Haus und waren abends bereits (oft inklusive der Kiste) verschwunden. Auf diese Weise landete bei unserer Wohnungsausflösung fast nichts im Müll.

Natürlich kann es frustrierend sein, wenn man (bei ebay-Kleinanzeigen, in Verschenkegruppen auf Facebook etc.) mit Menschen zu tun hat, die keine Rücksicht aufeinander nehmen. Andere Leute warten zu lassen (oder einfach gar nicht zu kommen) scheint heutzutage leider eine alltägliche Verhaltensweise zu sein.
Gleichzeitig habe ich durchs Abholen aber viele nette und interessante Menschen getroffen. Fast täglich führte ich Gespräche über unsere Pläne, welche für viele eine gewisse Faszination darzustellen schienen. Besonders im anonymen Berlin war es seltsam erfrischend, den Geschichten fremder Menschen zuzuhören, sei es über die nächste geplante Reise vom neuen Eigentümer unseres Zentralamerikareiseführers, oder Grillplatzempfehlungen vom glücklichen neuen Besitzer unseres Grills. Ganz spontan habe ich einen kompletten Abend im Flur stehend verbracht, denn die Zeit flog während der dreistündigen Unterhaltung mit einer (ehemals) Fremden nur so vorbei, ohne dass wir es bemerkten.
Abgesehen davon ist die Dankbarkeit, die mir von vielen dieser Personen entgegengebracht wurde, wirklich unbezahlbar.

Hat es sich gelohnt, Zeit zum Verschenken zu opfern?

Ihr seht – ich habs mir schwer gemacht. Natürlich wäre es sehr viel schneller und einfacher gewesen, einfach alles wegzuwerfen, was sich nicht verkaufen lässt. Dinge an andere Leute zu geben ist extrem zeitaufwändig - trotz der Versuche, einen begrenzten Abholzeitraum festzulegen, Dinge zu bündeln, und so weiter.
Die Gewissheit jedoch, dass all diese Dinge nun weiterbenutzt statt weggeworfen werden, ist ein unglaublich befriedigendes Gefühl! Für mich war das die zusätzliche Zeit definitiv wert. Als „müllbewusster Haushalt“ wäre es für uns aber auch zu schmerzhaft gewesen, so viele noch gut zu gebrauchende Gegenstände einfach wegzuwerfen.

In diesen Wochen ist mir allerdings auch bewusst geworden, dass man in der heutigen Gesellschaft leider (zu) stark darauf bedacht ist, Zeit produktiv zu nutzen, und „materiellen“ Wert für sich selbst zu erzeugen. Zeit damit zu verbringen, anderen Menschen Dinge zu schenken, ohne dabei einen greifbaren Gegenwert zu erhalten? Oft nicht unbedingt die naheliegendste Option. Im Gegenteil, findige Geschäftsleute machen heutzutage Profite mit Verhaltensweisen, die früher noch als Selbstverständlichkeit galten.
Dinge zu verschenken ist eine Gegenbewegung, die sich auf mich fast therapeutisch ausgewirkt hat. Es ist vollkommen okay, Stunden damit zu verbringen, Sachen zu verschenken, solange es sich gut anfühlt.

Auch wenn Müllvermeidung sicherlich nur Hand in Hand mit einem bewussteren Kaufverhalten wirklich effektiv ist, bin ich froh, dass wir – und natürlich die Leute, die gebrauchte Artikel abholen, statt neue zu kaufen – einen winzigen Anteil zu einer umweltbewussteren Welt beitragen konnten.

Ach Sina, tausend Dank für den Artikel (hier gibt's den übrigens auch auf Englisch), tausend Dank für all die Gedanken, die Du Dir gemacht hast, und tausend Dank, dass Du damit einen winzigen und doch SO wichtigen Teil zu einer nachhaltigeren Welt beigetragen hast. 💕 Die Idee mit "Kerzen-Selbstmachset",  „Basteltüte“ und „Gartenset für Anfänger“ finde ich einfach nur grandios.

Shia, die wie Sina und Miguel ebenfalls eine Wohnungsauflösung hinter sich hat, hat die oben bereits angesprochene Konsumthematik richtig gut auf den Punkt gebracht:
Wir geben uns gerne der Illusion hin, dass alles, was wir spenden auch weiterverwendet wird. Das entspricht leider nicht ganz der Realität. [...] Ich denke ja, dass Besitz auch Verantwortung ist. Jeder Gegenstand hat einen „life cycle“, also feste Lebensabschnitte bestehend aus Produktion, Erwerb, Benutzung und am Ende die Entsorgung. [...] Wenn ich nicht bereit bin, etwas in Stand zu halten und es am Ende auch verantwortungsbewusst zu entsorgen, dann sollte ich es mir gar nicht erst holen.
Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.

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